autor: maedchen 04.09.03

Heute hasse ich die Welt

Donnertag, 13.42 Uhr. Ich steig aus der Trambahn aus und sehe, dass mein Fahrrad weg ist. Schreck!!! Okay, tief durchatmen, das Rad ist weg. Zuerst noch mal überlegen, bevor ich austicke: ich hab’s gestern abend um acht hier vor diese Wand gestellt und abgesperrt. Ich bin nicht an der falschen Haltestelle. Ich habe das richtige öffentliche Verkehrsmittel benutzt, und ich habe nicht wegen meiner Matschbirne von den viel zu vielen Bieren gestern die Realitäten verwechselt. Das Rad müsste definitiv hier stehen und auf mich warten.

Jetzt. tick. ich. voll. aus.

WAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!!!!!! Mein Rad ist GEKLAAAUUUT!!!!!!!!

Schweißausbruch. Bin eh viel zu warm angezogen, sind ja noch die Klamotten von gestern abend. Ich kann’s nicht glauben! Jetzt wird mir schwindlig. Das ist nicht der Restalkohol, den hab ich schon raus gekotzt.
Was für eine Scheiße! Wie komplett durchgeknallt renn ich an der Haltestelle rum. Schau hinter jeden Busch, hinter jedes Eck. Nerv die Obstverkäuferin, ob sie was gesehen hat.
Es ist weg. Okay, langsam hab ich’s realisiert.

Phase zwei: Das Bewusstwerden über den Verlust. MEIN FAHRRAD! Ich liebe es. Ich bin kein Mensch, für den materielle Werte eine große Rolle spielen. Ich glaube nicht, dass das Rad viel wert ist. Aber es ist wunderschön, ein 40-50 Jahre altes schwarzen Damenfahrrad mit einem rotbraunen Sattel, und es fährt noch wunderbar. Ich hab’s beim vorletzten Umzug vor ein paar Jahren von meiner Nachbarin Schwester Mansueta aus dem Kinderheim geschenkt bekommen, weil ich meinen alten Kleiderschrank gestiftet hab. Ein Wahnsinnsdeal war das damals. Und was ich mit dem Radl schon alles erlebt hab! Wie oft hat es mich wieder sicher nach Hause gebracht... Von der Isar, vom Olympiapark, vom Englischen Garten, vom Backstage, vom Feierwerk, von Giesing, von Schwabing, von der Maxvorstadt... Es ist mit mir in die Arbeit gefahren, es ist mit mir an die Uni gefahren. Es hat Freud und Leid mit mir geteilt, Sonne, Regen und Stürme mit mir erlebt.
Zweimal war es schon schwer verletzt. Das erste Mal, das war auch an einer U-Bahn. Ich hab’s über’s Wochenende stehen lassen und am Montag war die Vorderradgabel eingetreten. Hat 70 Mark gekostet. Und erst vor ein paar Wochen konnte es dem Gewicht zweier betrunkener Freunde nicht standhalten und erlitt einen Felgenbruch. Die Jungs haben unter Riesenaufwand wieder eine passende Uraltfelge aufgetrieben. Dann war alles wieder gut.

Aber jetzt ist gar nichts gut! Wer macht so was? Wer kann mir so was antun? Am liebsten würd’ ich weinen! Das ist so ein Scheißmoment, in dem man die Realität verlassen will. Umschalten, aber die Fernbedienung geht nicht. Diese Gefühl hat man im schlimmsten Fall wenn jemand stirbt, oder wenn man zum dritten mal durch die Führerscheinprüfung fällt, oder wenn man den Typen, den man liebt, mit einer anderen sieht. Ein Scheißgefühl ist das!

Gut, dann laufe ich halt heim. Was soll ich jetzt auch anderes machen. Vielleicht geb ich morgen eine Vermisstenanzeige auf, oder geh zum Fundbüro. Bin heute noch zu verkatert für solche Aktionen. Auf dem 20minütigen Fußmarsch mustere ich jeden vorbei fahrenden Radfahrer misstrauisch. Mir kommen fiese Gedanken, dass ich vor mir selbst erschrecke: Ich stelle mir vor, wie mir das Arschgesicht von drecks Dieb auf MEINEM Rad entgegen kommt. Automatisch balle ich bei dem Gedanken meine Hände zu Fäusten und meine Miene verfinstert sich. Ich springe ihm in den Weg, er muss scharf bremsen, ich packe ihn am Kragen und zieh ihn von MEINEM Fahrrad runter. Erstmal mit dem Knie kräftig in die Eier. Das hat gesessen! Er krümmt sich, ich zieh ihn am Kragen wieder hoch und hau ihm mit meiner Stahlfaust in die Fresse, dass das Blut spritzt! Petra Klitschko gegen den amtierenden Fahraddieb Münchens. Sieg durch K.O. nach einer Minute sechsundvierzig.

Die, die mich kennen, wissen, dass ich eigentlich ein sehr friedliebender Mensch bin, der Gewalt grundsätzlich ablehnt. Einerseits bin ich von mir selbst angewidert, dass ich mich gedanklich auf dieses Niveau begebe. Andererseits brauch ich das jetzt.

Denn gestern konnte ich mich selbst nicht leiden, heute hasse ich die ganze Welt!!!

zurück