autor: libero 16.11.03

Mit halber Kraft voraus

Aus der Zunft der Feuilletonschreiber hätte niemand eine bessere Zustandsbeschreibung für die deutsche Nationalmannschaft bringen können als der Stuttgarter Jungnationalspieler Andreas Hinkel. Mit halber Kraft voraus bezeichnet allerdings nicht nur messerscharf den Auftritt gegen die Grand Nation in der Arena auf Schalke, sondern beschreibt vor allem auch die wirtschaftspolitische Situation in unserem Lande.

Die Voraussetzungen für eine Zäsur in Deutschland hätten nicht besser sein können. Der gemeine Fußballfan wurde von einer unglaublichen PR-Maschine in Das Wunder von Bern geprügelt und holte sich in den Kinos das romantisierte Lebensgefühl des Wirtschaftswunders ab. Kurz danach melden die Wirtschaftsweisen zum ersten Mal seit Autorsgedenken positive Wachstumsprognosen und das Trainerrelikt Berti Vogts, ein vergessener Missionar der rheinischen Republik in den schottischen Highlands, schlägt am Nachmittag mit 1:0 die sozial- und wirtschaftspolitischen Vorbilder aus den Niederlanden. (Unsere Nachbarn gelten genauer betrachtet nur deshalb als Vorbilder, weil sie die Kürzungen und Beschneidungen im Sozialstaat schon längst vorgenommen haben und sich mittlerweile in der nächsten Krise befinden, was der Öffentlichkeit aber gerne verschwiegen wird.)

Das Signal scheint klar: mit Rückbesinnung auf ärmelhochkrempelnde Tugenden und deutscher Hilfe können die Schotten ihre fußballerische Krise endgültig überwinden. Im Umkehrschluss müsste dann doch auch gelten, dass wir in kollektiver Rückbesinnung auf alte Tugenden und Rezepte nicht nur die zusehende 1860isierung der Nationalmannschaft stoppen können. Die neoliberalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von gestern –Eigenverantwor-tung, Deregulierung, Bildungs- und Subventionsabbau - bringen uns, wie der heilige Geist das Kinde zur Jungfrau, den Konjunkturaufschwung.

Alle wollen ihr Scherflein dazu beitragen. Ein amerikanischer Zuckerplörrehersteller, zugleich das Symbol für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Neoliberalismus und damit absolut im konsensfähigen Zeitgeist, ist sich nicht zu schade, um den eigens vom DFB gegründeten Fanclub der Nationalmannschaft, sozusagen eine der wirkungslosen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, mit einem Transparent zu unterstützen. Auch an das Nationalgefühl appellierende Fahnenschwenker werden eingesetzt, um den anscheinend notwendigen Pathos ins Unerträgliche zu steigern. Schon bei Spielen der Bundesliga habe ich für diesen Menschenschlag nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig. Bei Spielen der Nationalmannschaft schlägt es in pure Verachtung um. In weiteren Nebenrollen Waldi, Delling, Günter Netzer und der DIT.

Für die Berichterstatter der ARD ist dies alles noch nicht ausreichend, so dass sie auf die wirklich originelle Idee kommen, in der Nähe von Olli Kahn circa 10 Mikrofone aufzustellen um den Fernsehzuschauer 90 Minuten die Kommandos von Olli vor den Latz zu knallen. Auf einer Sklavengaleere kann es nicht schlimmer sein! „Mehr machen!“, „Raus!“, „Mehr arbeiten!“, „Enger!“, „Härter!“, „Raus!“ und immer wieder irgendwelche Rufnamen seiner Kollegen, respektive versklavten Ruderern. Und so reiht sich der Torhüter Olli Kahn nahtlos in die Reihe der neoliberalen Marktschreier vom Schlage eines Edmund Stoiber, Ronald Koch, Guido Westerwelle oder Gerhard Schröder ein: „Mehr arbeiten!“, „Weniger verdienen!“, „Mehr arbeiten!“, „Mehr Eigenverantwortung!“, „Mehr zahlen!“ usw. Die Parolen der sogenannten Reformer in die Sprache des Fußballs übersetzt um der breiten Öffentlichkeit nochmals vor Auge zu führen, dass wir es schaffen können, wenn wir alle mehr arbeiten würden. Früher hieß das Propaganda, heute nennt man es TV-Event.

Ein Geschenk des Fußballhimmels, das die ethnische gemischte französische Nationalmannschaft den deutschen Grobmotorikern in allen Belangen um Klassen überlegen ist und ihnen nach einer ausgeglichenen ersten Halbzeit so eindeutig die Grenzen aufzeigt, wie es Angela Merkel mit den Antisemiten in ihrer eigenen Partei machen will. So bleibt die deutsche Nationalmannschaft in internationalen Vergleichen gegen die Primusse weiterhin sieglos.

Mit halber Kraft voraus! Mir ist das lieber als ein kraftmenschgleich erzwungenes „Wir sind wieder wer“-Gefühl.

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