autor: zerstoerer 01.11.06

Mission: Vier neue Leben

Wer von uns kommt nicht von Zeit zu Zeit an den Punkt, an dem er sich nach einem anderen Leben sehnt. Einfach den Resetknopf drücken und man ist ein anderer Mensch in einem neuem Leben. Ein leben frei von Sucht, Sünden und Skandalen, frei von Scham, Stress, Schandtaten und Seemannsgarn. Frei von schattigen Sommern, sittenwidrigem Saufen, Schnupfen, Schimmel, Sekret und Sadismus.

Dieses Ziel fest vor Augen, trafen sich Anfang dieses Jahrtausends vier bis dahin perspektivlose aber wagemutige Individuen. Sie wollten ihr altes Leben beenden und beginnen, an einem Dasein mit Zukunft zu basteln. Die organische Selbstgeißelung von Lunge, Leber und Gehör im Rahmen eines durchfeierten Wochenendes sollte so stark auf die Psyche durchschlagen, dass die trostlose Lage jedem Teilnehmer vor Augen geführt, jeder seines alten Lebens überdrüssig werde und dadurch die Transformation ins neue Leben ausgelöst werde.

Vor dem eigentlichen Beginn dieser speziellen Therapie lotete altonas beste schon mal forsch die Weiten dieses neuen Lebens aus. Und zwar durch die Erschaffung eines filigranen Kunstwerkes, eines Schokoladenhauses, in den frühen Morgenstunden eines 18. August (das Jahr tut nichts zur Sache). Kreative Arbeit zu unchristlicher Zeit. Eine wahre Grenzerfahrung, bei der auch alteheide schon die Bereitschaft zur Transformation erkennen lies, in dem er durch fachkundige Kommentare die Arbeiten zielstrebig einem Ende zuführte.

krohnjuwel
Das Krohnjuwel

Der zerstoerer hingegen begann sofort mit der eigentlichen Therapie und schlug sich sogleich den Bauch mit Schokolade voll - die bei diesem Projekt als Abfallprodukt reichlich anfiel – bis sich sein Wanst mit einem lauten „Ploppp“ frech über die Gürtelkante schwang und im Freien baumelte. Mjamjamjam, rülps.

angst vor dem ich
Im neuen Leben kein Thema mehr - die Angst vor dem ICH

Während also zwei Personen des Quartetts Selbsthilfegruppe Mission Neues Leben bereits Zeit mit Tätigkeiten verbrachten, die durchaus auch Platz im neuen Leben gehabt hätten, hatte neben dem zerstoerer auch casigordo bei einem seiner letzten Freigänge in Hamburgs Kneipen schon längst mit der Therapie begonnen. So musste noch ein Platz für das Kunstwerk gefunden werden, der es möglicherweise therapiegeschwächten Gruppenmitgliedern unmöglich machen würde, bei deren Heimkehr in das Haus zu stürzen. Dieses musste nämlich aus Gründen der Statik im inneren mit Schaschlikspeeren stabilisiert werden.

bier
Noch im alten Leben - VERPISS DICH MÖCHTEGERNNEUES

Diese Bemühungen zahlten sich aus, als des Morgens ein bestens gelaunter casigordo das Schlafgemach enterte, es in hellstes Licht tauchte, die erwachenden fröhlich begrüßte und von der protestierenden Mehrheit ins Bett gelobt wurde. Nicht ohne allerdings – die Therapie fest vor Augen – die Lautstärke der Stereoanlage zu erhöhen und den gerade zum Vortrag kommenden Fall der ??? neu zu starten. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem der bedauernswerte zerstoerer schon glaubte, die pedantischen Ermittlungen des Oberklugscheißers Justus Jonas im Wesentlichen für diese Nacht hinter sich zu haben.

Der neue Tag begann, wie Tage beginnen müssen, in denen man vom alten ins neue Leben transformiert wird. Taucherbrillenwetter. Regen, Regen, Regen. Ein Wetter, dass einem die Trostlosigkeit des alten Lebens so richtig vor Augen führt.

Wenigstens kristallisierte sich auf diese Weise schnell heraus, dass auch dieser Tag hauptsächlich im Zeichen der Vorbereitungen für den kommenden Abend und damit für einen wesentlichen Teil der Therapie stehen würde. Dem vorletzten Abend, an dem durch besonders pflegelhaftes Verhalten (rauchen, rülpsen, rumhängen, rachenspülen) dem alten Leben gehuldigt werden würde. Anlass: Wohnungseinweihung beim K&K-Sturm.

Die erste nennenswerte (und einzige) Aktion tagsüber war ein Einkauf zum Zwecke der kulinarische Verköstigung am Abend. Mit nicht weniger als drei Kostbarkeiten sollten die Gastgeberinnen analog der Vorgehensweise der heiligen drei Könige gewogen gestimmt werden, das Schokoladenhaus als nicht zum Verzehr bestimmtes (Kathrin, Kristina: wehe Ihr habt es verspeist!) Krohnjuwel mal unberücksichtigt: casigordos altboarischer Obazda (bei dessen Zubereitung 19 Zwanzigstel Köstritzer Schwarzbier übrig blieben), altheidnischer Kartoffelsalat (viel zu wenig) und eine Schlammbowle nach altonas bester Braukunst.

Beim Einkaufen schlug das alte Leben noch mal voll zu. Während sich die meisten Zutaten widerstandslos eintreiben ließen, trieb die Jagd nach reinstem Maracujaextrakt für die Bowle drei der vier mit dem Einkauf beauftragten Therapieteilnehmern die Schweißperlen auf die Stirn. Maracuja-Trauben-Saft in Karl und Theo Albrechts Plastiknahrungshandel oder Maracuja-Aprikosen-Saft bei Tante Ede. altonas beste unmissverständliche Forderung nach reinstem Maracuja-Saft war nicht erfüllbar. Als Kompromiss (alteheide ließ keinerlei Einspruch zu) verständigte sich das Gremium auf den Kauf einer Flasche Kräuterlikör, bevor der in Auslandseinsätzen erfahrene casigordo auf eigene Faust noch sein Glück versuchte. Leider ohne Erfolg.

Der Nachmittag verlief ohne Zwischenfälle: Kurze Vorbereitung der Gaben, viel Schlaf, etwas Körperpflege, bevor in einer unerwarteten – aber selbst im alten Leben nie völlig auszuschließenden – Regenpause per pedes der Ort der Obsession aufgesucht wurde.

Vor dem Haus angekommen ein Schock. Beim Vergleich des Schokohauses mit seinem realen Vorbild stellte sich doch tatsächlich heraus, dass der Wirt der Speisegaststätte im Erdgeschoss den Namen seines Lokals falsch von altonas bestes Schokohaus abgeschrieben hatte. Den Wirt zu einer Korrektur zu bewegen, schien den Therapieteilnehmern zu penibel, weshalb die Aufschrift des Schokohauses ebenfalls falsch berichtigt werden musste.

Die Festivität bot dann einen nicht zu übertreffenden Rahmen für die Therapie. Reichlich Rachenspülmittel von verschiedenster Art und Dosierung und filigran diversifizierte Magenfüllmasse. Ein aufgeschlossenes - teilweise auch fußballsachverständiges – Publikum, keine nervenden Nachbarn (da selbst eingeladen) und somit auch keine Staatsmachteinsatz.

Schlecht war nur das Timing. Denn noch bevor sich Altona im Wiederhall der ersten Gockelschreie räkelte, hatten man zwar durch konsequentes Therapieren bereits einen nicht vermeidbaren schlechten Eindruck erzeugt, hatte aber die Promilleskala noch nicht hoch genug erklommen, als eine massiv schwindende Besucherzahl mehr und mehr darauf hindeute, dass nun auch unserer Zeit gekommen sei. Halbtrunken schwankten wir also von dannen und gaben uns – in altonas bestes Daheim – angekommen mit unterschiedlich stark ausgeprägter Freude einer weiteren Folge der ??? hin.

glimmstaengel
Im neuen Leben bald auch nüchtern möglich - spontaner Schönheitsschlaf überall zu jeder Zeit und Genuss in vollen Zügen auch ohne Glimmstengel

Der letzte Tag begann, wie Tage beginnen müssen, in denen man vom alten ins neue Leben transformiert wird. Pornobrillenwetter. Sonne, Sonne, Sonne. Ein Wetter, dass einem die soglose Überschwänglichkeit des alten Lebens so richtig vor Augen führt.
Es sollte ein Tag werden, der in der Wirkung der Therapie unterging, so wie es sein muss, wenn man den Abschied vom alten Leben wirklich will.

fragezeichen
Noch im neuen oder schon wieder im alten - alles nur Lug und Trug?

Der straffe Zeitplan am Vormittag ließ jedenfalls nicht mal für alle eine Dusche zu, aber wer muss sich dafür im alten Leben schon rechtfertigen. Erst im neuen wird so etwas zum Problem, wenn man einmal unberücksichtigt lässt, dass es im neuen Leben natürlich keine Probleme geben kann, weil Probleme dort immer akkurat lösbar sind!

Reichlich unorganisiert wählte man als Therapierahmen am frühen Nachmittag das Millerntor auf, um St. Pauli – Werder II anzusehen. Dabei gab der Sieg der Heimelf einen ganz klaren Hinweis darauf, dass die Transformation schon weit fortgeschritten war.

Danach genossen alteheide und der zerstoerer Stilecht Oettinger Bier an einer Tankstelle, um die Geschwindigkeit der Transformation wieder auf ein verträgliches Niveau abzusenken, bevor man den Weltastratag aufsuchte. Die Wirkung der Therapie schlugen dort, verstärkt durch Musik und Gewusel, bei casigordo und dem zerstoerer voll durch, die das Basislager für ein kleines Schläfchen aufsuchten, während nur alte heide kompromisslos sein Heil in der Flucht nach vorne Suchte.

Am Abend – nach einer kurzen Regenerationsphase – ging es dann nach einem kurzen weiteren Besuch des Weltastratags noch zum Dom, wo es sich casigordo nicht nehmen ließ, durch eine Runde Riesenrad mit dem K&K-Sturm seine Rolle als oberster Platzhirsch von Giesing schon mal vorsorglich für das neue Leben auch auf Hamburg St. Pauli auszudehnen.

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Schon fast mit der Meditationsmine des neuen Lebens

Schließlich gab man sich auf in St. Paulis Kneipen den finalen Gnadenschuss, wobei es alteheide durch wiederholte Aussagen gelang, durch Aussagen wie „I koa nimmer“ oder „Ich fall gleich um“ die Gefolgschaft über seinen wahren Zustand, der natürlich weit weniger dramatisch war, zu täuschen und glauben zu machen, die Therapie sei schon erfolgreich abgeschlossen worden.

Zu hause angekommen, gaben sich das Quartett vor dem zu Bett gehen noch eine Zeit mit größter Überzeugung der festen Illusion hin, dass dies der letzte Abend im alten Leben und der Erfolg der Therapie unumstößliche sei und sich am nächsten Tag wirklich alles ändern würde. Im neuen Leben.

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